Primärversorgung: Ganz ohne Fachärzt:innen geht es nicht
Inga PabstHausarztpraxen sollen künftig die Patient:innen in die richtige Versorgungsebene steuern. Das sieht das verbindliche Primärarztsystem der neuen Bundesregierung vor. Wartezeiten auf Arzttermine sollen verkürzt und Facharztpraxen entlastet werden. Während die Bundesärztekammer (BÄK) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die Pläne grundsätzlich unterstützen, warnt der Spitzenverband Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands e.V. (SpiFa) wegen fehlender Hausarztpraxen vor neuen Engpässen in der medizinischen Versorgung. Krankenkassen wollen deshalb auch Facharztpraxen in das Primärarztsystem einbinden.
Die verbindliche primärärztliche Versorgung, die CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag festlegten, sieht ein Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzt:innen in der hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag vor. Ausnahmen sollen bei der Augenheilkunde und in der Gynäkologie gelten. Für Patient:innen mit schweren chronischen Erkrankungen sollen außerdem geeignete Lösungen erarbeitet werden.
„Unser Ziel ist die Hausarztpraxis als regelhaft erste Ansprechstelle mit einer beschleunigten Terminvermittlung zur fachärztlichen Weiterbehandlung“, erläuterte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) auf dem 129. Deutschen Ärztetag Ende Mai in Leipzig. Doppeluntersuchungen oder lange Wartezeiten für den Facharztbesuch sollen so künftig vermieden werden.
Ausgestaltung des Primärarztsystems gemeinsam angehen
Die Ausgestaltung des Konzepts will Warken in Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung vornehmen. Sie hob ein entsprechendes Konzeptpapier der BÄK hervor, das viele Ansätze aus dem Koalitionsvertrag aufgenommen habe: „Ich sehe eine gute Ausgangsposition dafür, dass dieses neue System auch funktionieren kann, denn einen breiten Grundkonsens halte ich für absolut notwendig, damit diese Reform gelingt“, betonte Warken. Umdenken und Umlenken könnten nur gemeinsam gelingen.
Die BÄK befürwortet die primärärztliche Versorgung „aus einer Hand“, denn Deutschland hat mit 9,6 Arztkontakten pro Kopf im Jahr eine der höchsten Raten weltweit. In bestimmten Regionen hat jeder Zweite im Schnitt sogar 2 Hausärzt:innen. Diese Entwicklung sei nicht nur ineffizient, sondern auch angesichts von Personalengpässen und begrenzten finanziellen Mitteln schlicht nicht mehr tragbar, erklärte Kammerpräsident Klaus Reinhardt im Vorfeld des Ärztetages. „Wir unterstützen sehr, dass Union und SPD das Thema in ihrem Koalitionsvertrag aufgegriffen haben und ein verbindliches Primärarztsystem einführen wollen“, betonte Reinhardt. Entscheidend sei dabei die konkrete Ausgestaltung: „Das letzte, was wir wollen, ist ein reines Gatekeeping-System, wie wir es mit allen negativen Auswirkungen aus anderen Ländern kennen.“ Einschränkung der freien Arztwahl, Verzögerung beim Zugang zur fachärztlichen Versorgung und zusätzliche Belastungen der Hausärzt:innen seien zu vermeiden.
SpiFa und vdek befürchten neue Versorgungsengpässe
Der SpiFa begrüßt zwar auch die Koalitionspläne, niedergelassene Fachärzt:innen von Patient:innen zu entlasten, die aus medizinischen Gründen keinen Facharzttermin bekommen müssen. „Jedoch warnen wir vor einfach gedachten Lösungen. Eine reine hausärztliche Primärversorgung mit generellem Überweisungsvorbehalt zur fachärztlichen Versorgung wäre bereits aus Gründen der hausärztlichen Kapazität ein Supergau für die medizinische Versorgung“, teilte der SpiFa-Vorsitzende Dirk Heinrich mit. Patientengruppen, die wegen ihrer Erkrankungen regelhaft und regelmäßig ambulant fachärztlich betreut werden oder die wegen einer episodenhaften Erkrankung längere Zeit eine fachärztliche Versorgung brauchen, benötigten weiterhin einen Direktzugang zu fachärztlicher Versorgung.
Die KBV und mehrere Krankenkassen befürchten darüber hinaus, dass die bestehenden hausärztlichen Kapazitäten in Deutschland nicht ausreichen könnten, wenn sich die Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte pro Praxis durch das Primärversorgungssystem deutlich erhöht. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat auf Basis von Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2023 den zusätzlichen Bedarf an Hausarzt-Patienten-Kontakten berechnet. Demnach hatten 4,7 Millionen Versicherte in dem Betrachtungsjahr direkt einen Facharzt oder eine Fachärztin aufgesucht. Würden diese jeweils einen vorgeschalteten Hausarztkontakt erfordern, müssten sich die Hausarztpraxen demnach auf mindestens 217 zusätzliche Behandlungsfälle im Jahr einstellen. Zwar könnte sich diese Zahl durch Änderungen im Versorgungssystem reduzieren, räumte das Zi ein. Mit 1-2 Patientenkontakten pro Tag und Praxis zusätzlich muss aber wohl gerechnet werden.
Auch die anhaltenden Klagen von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) über tausende unbesetzte Hausarztpraxen dürfte einige Krankenkassen befürchten lassen, dass eine rein hausärztliche Primärversorgung zu einem „Flaschenhals“ zu werden droht. Der Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) bemängelt, dass durch reine Hausarztmodelle neue Zugangshürden aufgebaut werden und stellt stattdessen ein „Persönliches Ärzteteam” zur Diskussion. Das Konzept setzt auf ein von den Versicherten frei zu wählendes Team aus einem Haus- und bis zu 3 grundversorgenden Fachärzt:innen, zuzüglich der Möglichkeit, eine telemedizinische Ersteinschätzung über die Rufnummer 116117 der KVen einzuholen. „Das Modell der Ersatzkassen berücksichtigt stärker die tatsächliche Versorgungsrealität und wirkt zugleich steuernd”, sagte die Vorstandsvorsitzende des vdek, Ulrike Elsner.
Geplante Termingarantie stößt auf Widerstand
Keine Zustimmung gab es auf dem Ärztetag für die im Koalitionsvertrag angekündigte gesetzliche Termingarantie. Kammerpräsident Reinhardt bezeichnete das Vorhaben als „Behandlungskoordination mit der Brechstange“. Das gäben die derzeitigen Strukturen schlichtweg nicht her, betonte er. Auch die möglichweise anstehenden Budgetkürzungen für Fachärzt:innen in überversorgten Regionen stünden solchen Vorhaben entgegen. Vielmehr müssten fachärztliche Leistungen vollumfänglich entbudgetiert werden, forderte Reinhardt.
Den Planungen zufolge sollen die Patient:innen eine Arztpraxis für mindestens ein Jahr verbindlich wählen, die alle weiteren fachärztlichen Untersuchungen koordinieren. Laut BÄK-Positionspapier zählen zu den Hausärzt:innen Allgemeinmediziner:innen, Kinder- und Jugendmediziner:innen sowie Internist:innen, die sich an der hausärztlichen Versorgung beteiligen. Anders geregelt werden müsse aber die Versorgung chronisch Kranker: Sie sollen weiterhin direkt zu den behandelnden Fachärzt:innen gehen können.
Patient:innen haben aber auch künftig die Möglichkeit, eigenständig eine Facharztpraxis aufzusuchen – wenn sie dafür bezahlen. Die „Umsetzung der Eigenbeteiligung“ soll laut KBV aber nicht zwischen Ärzt:innen und Patient:innen, sondern zwischen Versicherten und den Krankenkassen geregelt werden. Die Wiedereinführung einer Praxisgebühr ist weder für die BÄK noch für die KBV eine Option. Die ärztliche Versorgung dürfe dadurch nicht mit bürokratischem Aufwand belastet werden, argumentiert die KBV.
Terminstau: Auch zwischen Fach- und Hausärzt:innen hakt es
Die AOK Rheinland/Hamburg hat sich einem weiteren Aspekt der ambulanten Versorgung gewidmet. In ihrem aktuellen Gesundheitsreport hat die Kasse die Behandlungskontinuität zwischen fach- und hausärztlicher Versorgung betrachtet – und Defizite ausgemacht. Abrechnungsdaten der AOK belegten, dass der unkontrollierte direkte Zugang zu Facharztpraxen nur einen kleinen Anteil an allen Behandlungsfällen ausmacht. Der Großteil der fachärztlichen Behandlungsfälle entfällt der Kasse zufolge vielmehr auf Patient:innen, die langfristig in fachärztlicher Behandlung sind. Dabei sei in den medizinischen Leitlinien eine längerfristige fachärztliche Behandlung für die meisten chronischen Erkrankungen aber nur in Ausnahmefällen vorgesehen.
Das Ausmaß der Weiterbehandlung auf fachärztlicher Seite bindet Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, stellte Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg klar: „Die Weiterbehandlung in der Facharztpraxis ist ein wesentlicher Faktor bei der Terminknappheit und den Wartezeiten für GKV-Versicherte.“
Zugleich fänden fachärztliche Befunde und Therapieänderungen in der Behandlung durch Hausärzt:innen oft keine Berücksichtigung. So wird dem Report zufolge die Diagnose einer chronischen Lungenerkrankung nur in jedem dritten, einer Herzinsuffizienz in jedem vierten und einer chronischen Nierenkrankheit nur in jedem fünften Fall durch Hausärzt:innen aufgegriffen. Für eine gelingende Primärversorgung müsse also auch die integrierte Versorgung verbessert werden, fordert die Kasse.
Digitale Angebote konsequent ausbauen
Sämtliche Vorschläge zur besseren Patientensteuerung und -versorgung heben auch die Dringlichkeit von mehr digitalen und telemedizinischen Angeboten hervor, insbesondere im Notrufsystem 116117. Die BÄK betont in ihrem Positionspapier, perspektivisch müsse das Prinzip „digital vor ambulant vor stationär“ gelten, um die Ressourcen der jeweiligen Versorgungsebene optimal zu nutzen. Digitale Angebote müssten ausgebaut werden, um Patient:innen frühzeitig und niedrigschwellig in die bedarfsgerechte Versorgungsebene zu leiten. Die vdek sieht in der Nutzung der Notfallnummer 116117 auch die Chance, die sektorenübergreifende Versorgung im Zuge der anstehenden Notfallreform mitzuplanen.
Damit eine bessere Versorgung gelingen kann, müsse auch die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gestärkt werden, „inklusive des Wissens über die Strukturen, Zuständigkeiten und wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens sowie deren sachgerechte Inanspruchnahme“, betont die BÄK ebenfalls in ihrem Positionspapier. Die Entwicklung von auch digitaler Gesundheitskompetenz sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und müsse bereits im Kindes- und Jugendalter beginnen. Dafür schlägt die Kammer vor, verstärkt auch Gesundheitsthemen in Lehr- und Bildungsplänen von Schulen und Kitas aufzunehmen.