Sarkome: Patienten-Rundumblick – „Du gibst mir so viel Hoffnung!“
Odette Helbig„Du lebst schon so lange mit dieser Erkrankung. Als ich meine Diagnose bekommen und gegoogelt habe, dachte ich, dass ich bald sterben werde. Dann habe ich deine Geschichte gelesen. Du gibst mir so viel Hoffnung!“ Anderen Betroffenen und ihren Angehörigen Hoffnung zu schenken, ist einer der Hauptgründe für meinen täglichen Einsatz als Patientenvertreterin. Die anderen Gründe sind Wut, Trauer und Frust, denn ich weiß, dass auch gerade jetzt, während ich diese Wörter in meinen Laptop tippe, Menschen an der seltenen Krebsart Sarkom leiden und sterben.
Viele kenne ich schon lange, persönlich und virtuell. Einige Namen schwirren durch meinen Kopf. Ich vermisse sie in meinen Insta-Insights. Das bedeutet nichts Gutes. So viele sind in den letzten Jahren gestorben. Menschen jeden Alters, viele junge Menschen und Kinder. Meine junge Kollegin Lena, Patientenvertretende, Bekannte, Freunde… Jedes Mal bricht mein Herz ein bisschen mehr! Dann möchte ich alles hinschmeißen und nichts mehr mit diesem Scheiß-Krebs zu tun haben. Meist dauert es nur ein, zwei Tage, dann kommt die Motivation, etwas zu bewegen und zu verändern, umso stärker zurück.
Und dann dauert es auch meist nicht lange und ein weiterer Grund zum Weitermachen zeigt sich wieder: Dankbarkeit! Meine eigene und die von anderen Menschen.
Ich bekomme so viele Nachrichten, in denen sich Betroffene, Angehörige und Hinterbliebene für meinen Einsatz bedanken, weil sie sich gesehen und verstanden fühlen, weil sie wissen, dass man an die verstorbene Person denkt.
Wie sollte ich auch dieses Thema aus meinem Leben verbannen? Schließlich lebe ich seit vielen Jahren mit der Erkrankung und bin seit 10 Jahren in der Selbsthilfe aktiv. Deswegen heißt mein Instagram-Account auch @leben_mit_sarkom. Das passt perfekt!
Ich lebe, liebe und arbeite mit dieser Erkrankung. Sie ist und bleibt ein Teil von mir. Das anzunehmen war ein harter, psychoonkologisch begleiteter, steiniger Weg und ist es heute noch! Immer wieder muss ich meine Diagnose erläutern, auf meinen Rechten als Patientin bestehen, mich nicht abwimmeln lassen, meine Krankheit und Gesundheit managen, auf Selbstfürsorge achten, irgendwie die finanzielle Existenz für mich und meine Kinder wahren und leben!
Die Diagnose Sarkom bekam ich 2010, mit 28 Jahren, nach 6-monatigem Diagnose-Chaos, spät abends auf dem Flur einer großen Berliner Klinik. Für den nächsten Tag war eine ganztägige OP geplant, in der ein riesiger, vermeintlich gutartiger Tumor aus meinem Becken entfernt werden sollte, inkl. dem unteren Ende meiner Wirbelsäule. Mein Mann und meine zwei kleinen Söhne (damals 1 und 5 Jahre) wollten gerade nach Hause fahren, als der Chefarzt der Chirurgie uns auf dem Flur mitteilte: „Wir haben gerade den pathologischen Befund bekommen. Sie haben ein Sarkom. Damit haben wir keine Erfahrung. Da müssen Sie sich eine andere Klinik suchen.“
Heute weiß ich, dass es genau die richtige Entscheidung des Chirurgen war, mich nicht zu operieren, denn sog. Whoops-Operationen, bei denen sich erst hinterher herausstellt, dass es ein Sarkom war, sind ein riesiges Problem und verschlechtern deutlich die Prognose. Aber damals war ich erschüttert, hilflos und überfordert. Zufällig erhielt ich von einem Radiologen den Hinweis auf ein Sarkomzentrum. Dort fühle ich mich noch heute gut aufgehoben und bin trotz wiederkehrender Rezidive sehr dankbar für die kompetente Betreuung.
Vielleicht wäre ich heute krebsfrei, wenn schon die Biopsie von Sarkom-Expert:innen durchgeführt worden wäre. Vielleicht würde ich dann ein normales Leben als Mama, Ehefrau und Erzieherin führen. Nun lebe ich mit dauerhafter Tabletten-Chemo, Fatigue, Lymphödem, Bestrahlungsschäden, sehr frühen Wechseljahren, Scheidung, Erwerbsminderungsrente und zwei großen Söhnen, die gar nicht wirklich wissen, wie das Leben mit einer gesunden Mama hätte aussehen können.
Als die ersten Rezidive kamen, habe ich mich nach anderen Betroffenen umgeschaut. Aber mit dem Sarkom war ich immer ganz alleine. In einer Reha druckte mir der leitende Arzt ca. 20 Seiten aus dem Internet aus, weil er keine Ahnung von Sarkomen hatte. In der onkologischen Ambulanz war ich immer die Jüngste.
Gerade junge Menschen mit Beschwerden werden oft nicht ernst genommen. Vor allem, wenn es, wie bei Sarkomen, schmerzlose Schwellungen sind: „Sie sind viel zu jung für Krebs!“
Leider höre und lese ich immer noch viel zu oft, dass Betroffene viel zu lange durch das Gesundheitssystem irren und erst viel zu spät die korrekte Diagnose erhalten. Auf diesem Weg gibt es häufig falsch gemachte Biopsien, unnötige, weil unpassende Chemotherapien und überstürzte Operationen. Manchmal wird das entnommene Gewebe nicht einmal untersucht. Dann fällt erst viel später auf, dass es ein bösartiger Tumor war, weil die betroffene Person plötzlich Lungenmetastasen hat.
Genau das will ich ändern! Ich will aufklären, Awareness schaffen, Menschen das Leid ersparen, das bei mir hätte vermieden werden können. Und ich will und kann Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit dieser seltenen Erkrankung: Durch die Sarkom-Selbsthilfegruppe Berlin-Brandenburg, die ich zusammen mit einem Sarkom-Betroffenen leite, Präsenz auf Patiententagen und Veranstaltungen wie der Sarkomtour, Vernetzung in den sozialen Medien, meine Arbeit bei der Deutschen Sarkom-Stiftung und durch den Podcast „selten & solide“, den ich zusammen mit einer Sarkom-Betroffenen aufnehme. Ich bin sehr glücklich, dass die Bühne, die man mir dafür bietet, immer größer wird und wir immer mehr Menschen erreichen können. Ich durfte auf der Sarkomkonferenz sprechen, werde eingeladen, um vor Pflegefachpersonal- und -Auszubildenden von meinen Erfahrungen zu berichten – und ich darf diesen Artikel schreiben.
Heute muss ich schmunzeln, wenn ich an die Anfänge meines Aufklärungsweges denke: Ich bin nach der Entfernung des Primärtumors zu allen vorher involvierten Ärzt:innen gegangen, um zu berichten, wie es weiterging. Ich dachte, die müssen doch alle erfahren, was da los war, und können bestimmt viel daraus lernen. Aber die Ablehnung war groß! Einzig die Hebamme, die mich durch die zweite Entbindung begleitet hatte, war interessiert und dankbar für meine Schilderungen. Rückblickend wussten wir, dass der sehr große Tumor den Geburtskanal massiv verdrängt und verengt hatte.
Hinter der Diagnose Sarkom steckt eine Vielzahl verschiedenster Subtypen und in meiner Arbeit mit Betroffenen stellen wir immer wieder fest, dass kein Fall dem anderen gleicht und noch viele Fragen offen sind. Oft habe ich mich verloren gefühlt, weil mir der Austausch fehlte und Ärzt:innen überfragt waren. Oder ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen, wenn es hieß „Wir können eine Strahlentherapie versuchen, aber ob es etwas bringt, wissen wir nicht.“ oder „Wir würden die Therapie mit Medikament xy vorschlagen, aber damit haben wir bei Ihrem Subtyp keine Erfahrung.“ Mittlerweile weiß ich, dass es ein großes Privileg ist, überhaupt Therapieoptionen zu haben und mitentscheiden zu können. Seit 3 Jahren steht im MRT-Befund „stabil, kein Wachstum bei den bekannten Rezidiven“. Außerdem kann aus meinem Fall etwas gelernt werden und jeder weitere Tag bringt mich vielleicht doch nochmal näher an eine spätere Heilung. Wer weiß…
Je tiefer ich in die Patientenvertretung eintauche, desto intensiver wird die Auseinandersetzung mit Themen wie Gesundheitskompetenz, Fake News und dem Ausnutzen der Vulnerabilität Betroffener. Ich kann gar nicht mehr wegschauen. Ich möchte dazu beitragen, dass Betroffene und Angehörige verlässliche Informationen finden und von Expert:innen behandelt werden. Es ist eine Mammutaufgabe! Von Sarkomen sind vermeintlich wenige Menschen betroffen, aber die medizinischen Erstkontakte könnten aus allen Fachrichtungen kommen. Die Awareness für Sarkom-spezifische Red Flags muss breit gestreut werden! Und es muss dringend mehr geforscht werden. Leider gibt es viel zu wenig Sarkom-Forschung, u.a. weil die Fallzahlen so gering sind.
Ein weiteres wichtiges Thema ist Shared Decision Making. Am Anfang meiner Patient Journey wollte ich die Verantwortung für die großen Entscheidungen abgeben und war erschrocken, dass ich selbst entscheiden sollte, ob der Tumor überhaupt entfernt werden soll. Erst heute verstehe ich in der ganzen Bandbreite, wie wichtig es ist, dass ich als Betroffene die Entscheidungen mittreffe. Schließlich muss und darf ich damit und mit den daraus entstehenden Konsequenzen leben. Und da schließt sich der Kreis zu meinem Einsatz als Patientenvertreterin: Wir können (noch) nicht verhindern, dass Menschen an Sarkomen erkranken und wir können und sollten sie auch nicht davon abhalten, ihre Diagnose zu googeln. Aber wir können ihnen ein Netzwerk bieten, Orientierung und Hoffnung geben, Wissen bereithalten, Informationen einordnen und einfach für sie da sein.
selten & solide – der Podcast der Deutschen Sarkom-Stiftung
„Wir geben Sarkomen eine Stimme und führen Gespräche mit Betroffenen dieser seltenen Krebsart, mit ihren Angehörigen und Hinterbliebenen und natürlich auch mit den medizinischen Fachkräften. Nachdem unser Podcast „selten & solide“ im Spätsommer 2022 an den Start gegangen ist und Sie in der ersten Folge die beiden Gastgeberinnen Verena und Odette kennenlernen konnten, haben wir nun schon eine ganze Reihe von Episoden veröffentlicht.