Journal Onkologie
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Die Zahlen verdeutlichen die Dringlichkeit: Bei Patient:innen über 70 Jahren mit Herzinsuffizienz liegt die Prävalenz bei über 10%, begleitet von 12-Monats-Mortalitätsraten von bis zu 17% und Wiederaufnahmeraten von bis zu 44%. Gerade diese vulnerablen Patientengruppen benötigen eine präzise Medikamentenabstimmung nach der Entlassung, um die Therapietreue zu sichern und erneute Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Doch die Herausforderung geht über die korrekte Einnahme hinaus. Häufig müssen Patient:innen zugleich grundlegende Lebensstiländerungen vornehmen – eine doppelte Belastung, die insbesondere ältere, multimorbide Menschen überfordert.

Die Autoren richten ihren Fokus auf 3 zentrale Aspekte der Telemedizin und KI im Medikamentenmanagement: innovative Technologien, praktische Anwendungen und patientenbezogene Herausforderungen. Die Herzinsuffizienz dient dabei als exemplarische chronische Erkrankung.

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Technologien zur Verbesserung der Therapietreue

Moderne Telehealth-Systeme basieren auf einer Kombination aus medizinischen Sensoren und patienteneigenen Eingaben. Blutdruckmessgeräte, Körperwaagen und weitere Geräte liefern objektive Gesundheitsdaten, während Patient:innen ihr subjektives Wohlbefinden und ihre Medikamenteneinnahme ergänzend dokumentieren können. Smartphone-Apps spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie ermög­lichen beispielsweise das Scannen von EAN-13-Barcodes auf Medikamentenverpackungen, um sicherzustellen, dass die richtige Medikation zur richtigen Zeit eingenommen wird.

Eine vielversprechende Innovation ist die Near-Field-Communication (NFC)-Technologie, die eine berührungsbasierte Datenübertragung auf kurze Dis­tanz ermöglicht. Passive NFC-Tags, die an Medikamentenverpackungen angebracht werden, erlauben Patient:innen, ihre Medikamenteneinnahme durch einfaches Berühren mit dem Smartphone zu dokumentieren. Intelligente Blisterverpackungen gehen noch einen Schritt weiter, indem sie mit elektronischen Schaltkreisen ausgestattet werden, die automatisch erkennen, wann Tabletten entnommen werden. Die Daten werden in Echtzeit an medizinisches Fachpersonal übermittelt.

KI-basiertes Adherence-Monitoring

Intelligente Medikamentenbehälter und eDispenser speichern Öffnungsereignisse, erinnern Patient:innen aktiv an die Einnahme und geben die Medikamente direkt aus. Besonders fortschrittlich sind KI-gestützte mobile Apps, die über die Smartphone-Kamera die Einnahme überwachen. Sie dokumentieren zuverlässig, ob die Medikation korrekt geschluckt wurde. Entscheidungsunterstützungssysteme analysieren Vitalparameter und schlagen auf Basis vordefinierter Regeln Medikationsanpassungen vor. In der Herzinsuffizienz-Telemedizin haben Machine-Learning-Ansätze, die auf elektronischen Patientenakten und Abrechnungsdaten basieren, bereits erste Erfolge gezeigt, etwa durch die Analyse von Vitalparametern wie Gewicht und Blutdruck. Dennoch bleibt die klinische Nutzbarkeit solcher Ansätze bei Erkrankungen wie chronisch obstruktiver Lungenerkrankung und Asthma eingeschränkt, da die Vorhersagegenauigkeit bisher nicht ausreichend ist. Weitere Forschung ist nötig, um diese Technologien in die Routineversorgung zu integrieren.

Sicherheit im Adherence-Monitoring

KI-basierte Systeme müssen regulatorische Anforderungen erfüllen und zuverlässig sein. Viele Hersteller bieten ihre Software als unterstützende Werkzeuge an, wobei Expert:innen die finale Entscheidung treffen. Die Sammlung sensibler Patientendaten erfordert durchdachte Sicherheitskonzepte, die speziell auf die Bedürfnisse älterer und multimorbider Patient:innen zugeschnitten sind. Benutzerfreundliche Log-in-Verfahren sind dabei essenziell für den Zugang.

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Telemedizin: Visionen und Perspektiven

Die von den Autoren vorgestellten Technologien eröffnen vielversprechende Perspektiven für eine umfassendere und effektivere Patientenversorgung, vorausgesetzt, sie werden in geeignete telemedizinische Infrastrukturen integriert. Ein zentraler Ansatz ist das sog. Closed-Loop Healthcare-Paradigma, das ein kollaboratives Versorgungsnetzwerk schafft. In diesem Modell arbeiten Hausärzt:innen, Klinikärzt:innen, Fachspezialist:innen, Pflegekräfte, Betreuer:innen, Pati­ent:innen und deren Angehörige auf einer gemeinsamen Kommunikationsplattform zusammen. Der Vorteil: Informationen gehen nicht verloren, und alle Beteiligten können nahtlos interagieren, um die bestmögliche Versorgung sicherzustellen.

Die Fortschritte in der Informationstechnologie und Datenanalytik haben das Konzept der KI hervorgebracht, das bereits in Bereichen wie Sprachassistenten, Betrugserkennung und autonomem Fahren Anwendung findet. Anders als frühere Computerprogramme, die auf vordefinierten Regeln und Expertenwissen basierten, ermöglicht Deep Learning das autonome Lernen aus Quelldaten, ganz ohne menschliche Anleitung. KI-Algorithmen entwickeln aus bekannten Beispielfällen komplexe Funktionen, die klinische Ergebnisse vorhersagen und medizinisches Fachpersonal frühzeitig alarmieren.

Doch der „Black-Box“-Charakter der KI bleibt eine Herausforderung. Entscheidungen sind oft nicht nachvollziehbar. Die Integration aller verfügbaren Datenquellen in ein umfassendes Dataset könnte jedoch helfen, individuelle Gesundheitszustände besser zu verstehen und sowohl die Behandlung als auch die Therapietreue zu optimieren. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, müssen jedoch noch zahlreiche regulatorische Fragen zu Datenschutz, Sicherheit und Datenstandards geklärt werden.

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Rolle der KI in der evidenzbasierten Medizin

Bei der Langzeitversorgung von chronisch erkrankten und multimorbiden Patient:innen spielt spezifisches Fachwissen eine zentrale Rolle. Ärzt:innen können durch evidenzbasierte Leit­linien und KI-gestützte Systeme unterstützt werden, um die bestmögliche Medikation für komplexe Krankheitsbilder zu wählen. Diese Kombination aus menschlicher Expertise und maschineller Intelligenz könnte zukünftig die Versorgung maßgeblich verbessern und neue Standards in der Behandlung setzen.

Patientenbezogene Aspekte und Telehealth-Fortschritte

Die Patient:innen, die am meisten von Telehealth profitieren, sind meist älter, multimorbid und nehmen 5 oder mehr Medikamente gleichzeitig ein. Da klinische Studien diese Gruppen oft ausschließen, sind die Medikamenteneffekte in realen Versorgungssituationen schwer vorherzusagen. Telehealth bietet hier großes Potenzial, um reale Evidenz zu generieren, vorausgesetzt, die Systeme berücksichtigen die kognitiven und physischen Einschränkungen dieser Patientengruppen.

Eine effektive Langzeitüberwachung setzt die aktive Mitarbeit und Motivation der Patient:innen voraus. Studien zeigen, dass einfache, in den Alltag integrierbare Technologien die beste Therapietreue erreichen. Diese Systeme müssen robust, kosteneffektiv und störungsfrei funktionieren, da selbst kleine Unannehmlichkeiten zu Ablehnung führen können. Gleichzeitig darf die Dateneingabe nicht übermäßig vereinfacht werden, da dies die Qualität der erfassten Informationen beeinträchtigen kann.

Die Telemedizin bietet zahlreiche Fortschritte, die die medikamentöse Therapie nachhaltig verbessern könnten:

  • Früherkennung: Systeme zur Überwachung der Therapietreue, kombiniert mit Vitalzeichen-Übertragung, ermöglichen eine rechtzeitige Reaktion auf gesundheitliche Verschlechterungen, noch bevor der nächste Arztbesuch ansteht.

  • Vollständigkeit: Die Integration von Telehealth-Systemen in elektronische Gesundheitsakten, wie etwa die e-Medikation in Österreich, schafft einen umfassenden Überblick über den Medikamentenstatus der Patient:innen.

  • Validierung: Obwohl die direkte Validierung der Medikamenteneinnahme über intelligente Blister schwierig bleibt, kann das Monitoring von Vitalzeichen wertvolle Hinweise auf die Therapietreue liefern.

  • Erinnerungen: Vergesslichkeit ist eine der Hauptursachen für Nicht-Adhärenz, insbesondere an Wochenenden und Feiertagen. Automatische Erinnerungen können die Therapietreue deutlich verbessern und langfristig stabilisieren.

Fazit

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass datengetriebene Entscheidungsunterstützungssysteme zunehmend Routineaufgaben in der Telemedizin übernehmen könnten. Solche Systeme könnten Risikopatient:innen frühzeitig identifizieren und automatisierte Prozesse, von der Überwachung bis zur Therapieanpassung, steuern. Medizinisches Fachpersonal müsste nur bei Abweichungen von der Routine eingreifen, was die Effizienz und Qualität der Versorgung steigert.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen prädiktive Modellierungsmethoden retrospektiv auf Telehealth-Daten angewendet werden, um Muster für die Vorhersage klinischer Ergebnisse zu identifizieren. Gleichzeitig sind prospektive klinische Studien dringend nötig, um die Möglichkeiten und Herausforderungen der Telemedizin im Zusammenhang mit KI-basierten Medikamentenanpassungen zu bewerten.

Schließlich müssen alle relevanten Datenquellen verfügbar gemacht und zu einem umfassenden Datensatz zusammengeführt werden. Dieser bildet die Grundlage für datengetriebene Methoden, die Gesundheitsfachkräfte dabei unterstützen, Patient:innen mit einem optimalen Ressourceneinsatz und einem risikoadjustierten Sicherheits- und Datenschutzansatz zu ihrem bestmöglichen Gesundheitszustand zu führen.

Quelle:

Quelle: Eggerth A, Hayn D, Schreier G. Medication management needs information and communications technology-based approaches, including telehealth and artificial intelligence. Br J Clin Pharmacol 2020;86(10):2000-07.

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