Den Weg für Gentherapien freimachen
Inga PabstGen- und zellbasierte Therapien (GCT) bieten neue Perspektiven, besonders für schwer kranke Menschen ohne wirksame Behandlungsoptionen. Mit einer Nationalen Strategie* räumt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) der Förderung von GCT eine hohe Priorität ein. Ergebnisse der Grundlagenforschung sollen dadurch schneller in die klinische Praxis gebracht werden. Dafür ist in Deutschland noch viel Aufbauarbeit nötig.
GCT sind Schlüsseltechnologien für Innovationen in der biomedizinischen Forschung und Krankenversorgung. Sie greifen nicht nur krankheitsmodulierend oder beschwerdelindernd ein, sondern adressieren direkt die genetische Ursache des Krankheitsprozesses. So eröffnen sie vielversprechende Perspektiven für Patient:innen mit schweren und sehr seltenen Erkrankungen, für die es bisher keine Therapie gibt.
Europa und insbesondere Deutschland haben in diesem Bereich einen großen Nachholbedarf. Die Translation, d.h. die Übertragung erster wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in die allgemeine medizinische Versorgung, geht, wenn überhaupt, sehr schleppend voran. Bei den weltweiten klinischen Studien zu GCT stammt nur ein Bruchteil aus Deutschland, die meisten Studien entfallen auf die USA und China. Laut Prof. Dr. Christof von Kalle, stellvertretender Sprecher der „Nationalen Strategie für Gen- und zellbasierte Therapien“ am Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité, stammen in Deutschland lediglich 18% der pharmazeutischen Neuentwicklungen aus akademischen Quellen. In Europa sind es immerhin 30%, in den USA dagegen mehr als 75%.
Strategiepapier definiert 8 Handlungsfelder
Die Hemmnisse für Forschung und Translation in Deutschland seien gravierend: „Es gibt erhebliche Hindernisse in der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die für den einzelnen Stakeholder nur sehr schwer oder gar nicht zu bewältigen sind“, sagte von Kalle. Das Forschungsgeschehen sei zu intransparent, die Regularien zu komplex, öffentliche Förderprojekte zu kurz und kleinteilig und Anschlussfinanzierungen zu unsicher, um innovative GCT vom Labor bis an die Patient:innen zu bringen. Um Innovationen gezielter zu fördern und die Translation zu beschleunigen, hat das BMBF im Herbst 2022 das BIH beauftragt, eine Nationale Strategie für GCT zu entwickeln und zu koordinieren. Dazu wurden die Perspektiven von rund 150 Expert:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und von Patient:innen einbezogen. Herausgekommen ist ein knapp 140 Seiten umfassendes Strategiepapier. Es definiert 8 Handlungsfelder, die die Schwachstellen entlang der gesamten Wertschöpfungskette aufzeigen und konkrete Handlungsziele formulieren: Es geht um die Themenbereiche Vernetzung und Unterstützung der Stakeholder, Ausbildung und Kompetenzstärkung, Technologietransfer, Standards, Normen und regulatorische Rahmenbedingungen, Ausbau der Good Manufacturing Practice (GMP)-Produktion, Forschung und Entwicklung, Marktzulassung und Übergang in die Versorgung sowie Interaktion mit der Gesellschaft. Hierfür sollen Maßnahmen getroffen werden, die die Umsetzung von Ergebnissen aus der in Deutschland starken Grundlagenforschung in die klinische Praxis beschleunigen. GCT sollen gleichzeitig sicher, effizient, finanzierbar und breit zugänglich gemacht werden. Für die Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen der Strategie stehen im Zeitraum von 2023-2026 insgesamt 48 Millionen Euro zur Verfügung. Ein Nationales Netzwerkbüro für GCT bündelt und steuert die Maßnahmen.
Ökosystem statt Technologie-Cluster
Die Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen für translationale Forschung und Entwicklung ist eine zentrale Maßnahme der Strategie. Im Bundesgebiet verteilte Zentren, sog. dezentrale Knotenpunkte, sollen der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugänglich gemacht und Produktionskapazitäten ausgebaut werden. Inkubatoren für Start-ups sollen Innovationen fördern und Prüfeinrichtungen die Wirksamkeit und Sicherheit der Innovationen gewährleisten. Neue Förderformate und Kooperationen zwischen Industrie und Akademie sollen die Übertragung von Forschungsergebnissen in klinische Studien beschleunigen. „Gerade im Bereich der Vektortechnologie, die das Einschleusen von genetischem Material in Zielzellen ermöglicht, ist die Grundlagenforschung exzellent“, betonte von Kalle, der auch Chair für Klinisch-Translationale Wissenschaften und Direktor des Klinischen Studienzentrums am BIH ist. „Aber wenn es dann an die weitere Umsetzung geht, verliert sich das, weil Wissenschaftler:innen und Labore wegen oft besserer Arbeitsbedingungen in andere Länder gehen.“ Deshalb gehe es bei der Nationalen Strategie in einem ersten Schritt darum, mit öffentlichen Geldern ein Ökosystem zu schaffen, durch das Grundlagenforschung in die erste Phase der Umsetzung kommt. Ein Jahr nach dem Start sieht von Kalle diesbezüglich bereits große Fortschritte, „weil man wirklich in allen Teilen verstanden hat, dass es hier ums Zusammenarbeiten geht, und dass es sich tatsächlich um eine Strategie handelt, die auch auf eine längerfristige Umsetzung abzielt.“ Die Stakeholder haben sich inzwischen in den verschiedenen Arbeitsbereichen organisiert und machen bereits Vorschläge für die jeweiligen Bereiche. Eine Informationsplattform, der „GCT-Atlas“, wurde aufgebaut und vor Kurzem veröffentlicht.
Produktion aufbauen und Start-ups fördern
Der Technologietransfer soll sicherstellen, dass biomedizinische Forschungsergebnisse zum Nutzen von Patient:innen, Wirtschaft und Gesellschaft eingesetzt werden. Dafür soll eine durchgängige Translationskette von der Patentierung bis zum klinischen „Proof-of-Concept“ etabliert werden. Eine kritische Infrastruktur soll aufgebaut und die Zulassungsverfahren deutlich vereinheitlicht werden. Schließlich sollen bessere Voraussetzungen geschaffen werden, um Venture-Capital einwerben zu können. Für die Entwicklung innovativer GCT sollen wesentliche Grundeinrichtungen aufgebaut werden, darunter Herstellereinrichtungen für Gentransfervektoren und für GCT-Produkte. Dafür muss zunächst die derzeitige Struktur der fragmentierten Technologie-Cluster durch ein GCT-Netzwerk ersetzt werden, das Servicestrukturen für die wissenschaftliche Gemeinschaft etabliert, die Akteure vernetzt und durch eine öffentliche Grundfinanzierung abgesichert ist. Darauf aufbauend sollen Public-private Partnerships für Dienstleistungen entstehen. Ziel ist, dass Bund, Länder, Industrie und private Investoren künftig gemeinsam in dem GCT-Netzwerk engagiert sind und den weiteren Aufbau vorantreiben.
„Proof-of-Concept“-Studien finden zu Beginn der klinischen Phase statt, wenn eine Substanz bereits ihre Wirksamkeit in Tierstudien bewiesen hat und erste Untersuchungen über ihre Sicherheit erfolgreich waren. Sie sollen zeigen, ob die Substanz tatsächlich einen krankheitsrelevanten Mechanismus beeinflusst. An dieser Stelle bricht die Weiterentwicklung vielversprechender Forschungsansätze aber meistens ab, die Projekte sind vielmehr mit einer „Funding-Lücke“ konfrontiert. Für den nächsten Schritt der Lizensierung sind deshalb Ausgründungen nötig, bis die Pharmaindustrie ab Phase II und III klinischer Studien die Weiterentwicklung des Wirkstoffes übernimmt. „Dieses Programm wird tatsächlich in erster Linie eine Infrastruktur bereitstellen und versucht nicht, ein einzelnes Pilotprojekt voranzutreiben“, sagte von Kalle. „Hier geht es darum, eine zusammenhängende Infrastruktur aufzubauen, die diese ganze Kette der notwendigen Maßnahmen tatsächlich abbilden kann.“ Man wolle bewusst nicht wieder ein kurzfristiges, kleinteiliges Funding-Programm an Pilotprojekten im „Proof-of-Concept“ machen, um zu zeigen, dass Gentherapie funktionieren kann. „Sondern wir versuchen eine Ertüchtigung des Ökosystems zu erzielen, um die genannten Schwierigkeiten umschiffbar zu machen.“ Eine der ersten Maßnahmen der Strategie fokussiert deshalb die Etablierung des bundesweiten Entrepreneurship-Programms GeneNovate, das jungen Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen unternehmerische Grundlagen und ein translationales „Mindset“ vermittelt. Mit regelmäßigen „Investors‘ Days“ sollen zudem potenzielle Kapitalgeber:innen für Biotech-Start-ups angelockt werden.
Marktzulassung und Übergang in die Versorgung
Schließlich soll auch der Zugang zu GCT für schwerstkranke Patient:innen beschleunigt werden. Dafür sollen interdisziplinäre GCT-Behandlungseinrichtungen eingerichtet und die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Versorgung intensiviert werden. Durch Fortbildungen, Standardisierung der Diagnostik und durch Einführung von Therapieentscheidungsboards soll die Behandlungsqualität gesichert werden. Auch Vergütungsfragen sollen angegangen werden. Flexibilisierte Erstattungs- und Versorgungsmodelle sollen im AMNOG-Prozess zur Preisbildung neuer patentgeschützter Medikamente mehr Spielräume eröffnen, um den Zugang zu neuen hochqualitativen, innovativen Therapeutika zu sichern.
Schließlich ist die Datenlandschaft durch standardisierte Erfassung, Vernetzung vorhandener Register und Verstetigung eines nationalen GCT-Registers zu optimieren. „Die Strategie ist dann erfolgreich umgesetzt, wenn für jedes Projekt eine klare Definition darüber besteht, was der nächste Schritt ist, wo man einen Partner für die Durchführung dieses nächsten Schrittes finden kann, und wie wir das insgesamt gemeinsam am effizientesten umsetzen, auch im Sinne der Patient:innen“, erläuterte von Kalle. „Das wird dann auch wirtschaftlich der beste Weg sein. Wenn es im Sinne der Patient:innen funktioniert, dann funktioniert es für das Gesundheitssystem und damit letzten Endes auch auf der wirtschaftlichen Ebene.“
* Nationale Strategie für Gen- und zellbasierte Therapien: https://www.nationale-strategie-gct.de/