Wie Shared Decision Making die patientenzentrierte Versorgung verbessert
Anja Lehner-UlshöferIn der Onkologie stehen Patienten* und Behandler häufig vor Therapieentscheidungen, die weitreichende Konsequenzen für die Patienten haben. Umso wichtiger ist es, Patienten aktiv in die Therapieentscheidung einzubeziehen. Shared Decision Making (SDM) bietet einen Rahmen, um medizinisches Fachwissen mit den individuellen Präferenzen der Patienten zu verbinden – und damit die bestmögliche Therapie gemeinsam zu gestalten. Nahezu alle onkologischen Leitlinien empfehlen mittlerweile die partizipative Entscheidungsfindung als Kommunikationsmodell für Therapieentscheidungen. Das Bayerische Zentrum für Krebsforschung (BZKF) setzt seit 2022 mit dem Projekt BAYERN GOES SDM gezielt auf die systematische Einführung von SDM an den 6 Unikliniken. Serap Tari, Biologin, Psychoonkologin und Projektleiterin von BAYERN GOES SDM, gibt Einblick in den Nutzen von SDM und erklärt, worauf es bei der Umsetzung in die Praxis ankommt.
Frau Tari, Bayern war das erste Bundesland, das eine systematische Implementierung von SDM vorangetrieben hat. Was genau macht die partizipative Entscheidungsfindung aus und wie ist das BZKF dabei vorgegangen?
„Patientenzentrierte Versorgung“ ist aktuell ein großes Thema, und SDM beschreibt den Prozess, in dem Patienten aktiv in Therapieentscheidungen einbezogen werden. Bei der partizipativen Entscheidungsfindung sitzen 2 Experten an einem Tisch: Patienten als Experten in eigener Sache mit dem Wissen um die persönlichen Lebensumstände, Erwartungen und Bedenken – und die Ärzte als Experten für die Medizin – besser gesagt für die evidenzbasierten Handlungsoptionen. Ziel der partizipativen Entscheidungsfindung ist es, die optimale Behandlung zu finden, also die Behandlung, die medizinisch sinnvoll ist und die Präferenzen und Lebensumstände der Patienten berücksichtigt. Die Projektgruppe SDM am BZKF hat sich dabei an dem Innovationsfondsprojekt MAKING SDM A REALITY mit der Vollimplementierung von SDM am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel orientiert. Am UKSH wurde das SHARE TO CARE-Programm zur Implementierung von SDM-Prozessen entwickelt und evaluiert.
Wie läuft ein SDM-Gespräch zwischen Arzt und Patient ab?
Zu Beginn des Gesprächs wird das Gesprächsziel festgelegt, z.B. mit den Worten: „Heute geht es darum, gemeinsam über das weitere Vorgehen zu entscheiden, denn in Ihrer Situation gibt es mehrere medizinisch sinnvolle Möglichkeiten.“ Im 2. Schritt wird erklärt, warum es wichtig ist, Patienten in den Entscheidungsprozess einzubinden – insbesondere bei präferenzsensitiven Therapieoptionen. Schritt 3 ist dann, über alle verfügbaren Therapieoptionen zu informieren und Vor- und Nachteile der jeweiligen Option aufzuzeigen. Dazu gehört auch die Option, nichts zu tun. Ganz wichtig: Es geht dabei nicht darum, Patienten zu erschrecken, sondern ihnen so ein Verständnis über die Erkrankung mit ihren Folgen und die Ziele der Therapie zu ermöglichen. Den 4. Schritt stellt die aktive Einbeziehung der Präferenzen und Lebenssituation der Patienten dar: „Was ist Ihnen in Ihrem Leben wichtig? Was erwarten Sie sich von der Therapie? Welche Bedenken haben Sie?“ Auf der Basis können z.B. Behandlungsoptionen, die für den Patienten gar nicht vorstellbar sind, ausgeschlossen werden. Oder eine Behandlungsoption kommt doch in Frage, auch wenn der Patient sie ursprünglich ausgeschlossen hatte, weil die Alternative noch weniger in Frage kommt. Oder es stellt sich heraus, dass ein Patient nicht mitentscheiden, sondern der Empfehlung des ärztlichen Teams folgen möchte. Im 5. Schritt wird die gemeinsame Entscheidung getroffen und abschließend in Schritt 6 die Umsetzung geplant. Nicht immer fällt die Entscheidung in einem einzigen Gespräch und im besten Fall kommen im Laufe des Prozesses auch evidenzbasierte Entscheidungshilfen zum Einsatz.
Welche Vorteile hat SDM für die am Entscheidungsprozess beteiligten Patienten und Ärzte?
Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, auf die SDM einen positiven Effekt haben kann. Auf Seiten der Patienten sind das z.B. Zufriedenheit, Gesundheitskompetenz, Risikowahrnehmung, Lebensqualität, Angst, das Vertrauen in die Arzt-Patienten-Beziehung und nicht zuletzt das Bedauern (decision regret). Patienten, die in die Entscheidung einbezogen wurden, bereuen diese weniger, auch wenn unerwünschte Nebenwirkungen oder Nachteile eintreten. Die Adhärenz ist ebenfalls ein sehr wichtiger Punkt – gerade bei chronischen Verläufen einer Erkrankung. Eine höhere Therapietreue führt nicht nur zu einer besseren Behandlungsqualität, sie entlastet auch die behandelnden Ärzte, da die getroffene Entscheidung nachvollziehbar und gemeinsam getragen wird und zu weniger Therapieabbrüchen führen kann.
SDM führt auch zu einem Return on Investment. So auch der Titel eines Vortrags – organisiert von der International Shared Decision Making (ISDM) Society im Juni dieses Jahres. Vorgestellt wurden die Ergebnisse einer Befragung einer internationalen Stichprobe von Ärzten aus verschiedenen Fachrichtungen. Alle waren klinisch tätig und bezeichnen sich als überzeugte Verfechter der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Ihre Aussagen: SDM unterstützt die Selbstidentität als ethisch handelnde Fachkraft, die die Autonomie des Patienten respektiert und fördert. Dies führt zu einer erhöhten Arbeitszufriedenheit und beruflichen Erfüllung. Zudem kann SDM präventiv gegen moralische Verletzungen und Burnout wirken, indem es das Risiko für Ärzte mindert, das sog. „2. Opfer“ eines ungünstigen Behandlungsergebnisses zu werden. SDM gibt ihnen auch Rechtssicherheit bei der Therapiewahl und hilft allgemeine Qualitätsstandards einzuhalten.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang die Rechtssicherheit an?
Ja, ein ganz wichtiger Punkt. Ein Arzt hat die Verpflichtung, ordnungsgemäß aufzuklären, sonst haftet der Arzt. Der SDM-Prozess entspricht dem Patientenrechtegesetz und ermöglicht die vollständige Dokumentation und eine für den Patienten verständliche Aufklärung über alle gegebenen Therapieoptionen. Eine dokumentierte gemeinsame Entscheidung anzufechten, wird schwierig…
Trotz aller Vorteile wird SDM nur punktuell praktiziert? Was sind aus Ihrer Sicht die Hindernisse und was überfordert die Ärzte?
Es ist wichtig, zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Hindernissen bei der Implementierung von SDM zu unterscheiden. Ein häufig genanntes Hindernis ist der angeblich hohe Zeitaufwand, der mit SDM einhergehen soll. Ohne Frage erfordert die Einführung von SDM zunächst mehr Zeit, doch zeigen Daten aus dem UKSH in Kiel, dass die Dauer der Gespräche nach dem Ärztetraining sogar weniger Zeit in Anspruch nehmen als vor dem Training. Das kann daran liegen, dass der SDM-geschulte Arzt strukturierter und zielführender durch das Gespräch leitet. Und es geht um die Priorisierung. Im laufenden Betrieb SDM zu implementieren, ohne Zeitfenster dafür freizuhalten, ist für keinen der Beteiligten ein Spaß.
Ein weiterer Punkt ist, dass SDM gelegentlich mit der informierten Einwilligung verwechselt oder bereits als etabliert angesehen wird. Ich sage es mal so: Nicht überall, wo SDM draufsteht, ist auch SDM drin. Wir hören sehr oft: SDM, das machen wir doch eh schon. Doch so ist das nicht. Für die 6 Schritte und ihre Reihenfolge gibt es gute Gründe. An dieser Stelle müssen Ärzte über den eigenen Tellerrand hinausschauen, alle möglichen Therapiealternativen kennen und kommunizieren. Das kann als Überforderung wahrgenommen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Ärzte auch der Klinik und wirtschaftlichen Aspekten verpflichtet sind. Die Evidenz zeigt, dass SDM praktikabel, effektiv und mit positiven Effekten für Patienten und Behandler verbunden ist. Die wirkliche Herausforderung besteht darin, diese Erkenntnisse konsequent in die klinische Routine zu integrieren und die Akzeptanz bei allen Beteiligten zu fördern. Nicht selten müssen hierfür festgefahrene Abläufe durchbrochen werden. SDM ist und bleibt ein Kulturwandel und für diesen sollte das gesamte Team miteinbezogen werden.
Wie geht es in Zukunft in Bayern mit SDM weiter?
SDM ist in Bayern nun sichtbar. Aufbauend auf die vom BZKF geförderten SDM-Strukturen entstehen neue wissenschaftliche Projekte. Am Uniklinikum Augsburg hat z.B. das Projekt SDM FIT ALL aktuell den Studienpreis der Arbeitsgemeinschaft Radiologische Onkologie gewonnen. Dabei geht es um eine Machbarkeitsstudie zur SDM-Implementierung in der Radioonkologie. Am Uniklinikum Erlangen wird die Qualifikation der Onkolotsen zum Thema SDM evaluiert, in der Urologie fließt SDM in Forschungsanträge ein, so auch in der Orthopädie an der TU München und dem CCC Regensburg. Am LMU-Klinikum in der Strahlentherapie findet SDM bereits Platz in einzelnen Studienprotokollen. Zurzeit wird in Bayern am LMU-Klinikum und der Uniklinik in Würzburg – sowie auch am UKE Hamburg mit Unterstützung des BZKF und in Kooperation mit der Uniklinik Kiel – das SHARE TO CARE-Programm in 2 Brustzentren implementiert, um langfristig mithilfe von einer Entscheidungshilfe Patientenpräferenzen zu messen.
Vielen Dank für das Gespräch!
* In diesem Text wird das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind stets alle Geschlechter.
Das Nationale Kompetenzzentrum in Kiel finden Sie unter journalonko.de/251121.
Informationen zum BZKF finden Sie unter journalonko.de/251122.