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JOURNAL ONKOLOGIE 11/2021

1. Nationaler ITP-Patiententag – Leben mit Immunthrombozytopenie

Dr. med. vet. Astrid Heinl

1. Nationaler ITP-Patiententag – Leben mit Immunthrombozytopenie
© thongsee - stock.adobe.com
Der ITP-Patiententag bietet Patient:innen mit Immunthrombozytopenie (ITP), Expert:innen und Angehörigen eine Plattform für den Austausch zum Krankheitsbild ITP. Im Rahmen des 1. Nationalen ITP-Patiententags, der am 25. September 2021 virtuell stattfand und an dem etwa 180 Patient:innen und Angehörige teilnahmen, wurden verschiedene aktuelle Fragestellungen rund um das Thema ITP, wie die Lebensqualität und die Bedürfnisse aus Sicht der Patient:innen, diskutiert.
Der ITP-Experte Prof. Dr. Axel Matzdorff, Schwedt/Oder, erwähnte zu Beginn, welche Informationen für die Patient:innen wichtig sind. Diese wollen beispielsweise wissen, an wen sie sich wenden können, wie sie mit Nebensymptomen wie Erschöpfung umgehen sollen und ob sie Sport treiben oder verreisen können. Neben den Laborwerten und aktuellen Therapiemöglichkeiten sollten daher stets auch diese Aspekte von ärztlicher Seite entsprechend beleuchtet werden.
 
Therapieindikationen

Die Therapieentscheidung basiert auf verschiedenen Faktoren (die Auflistung entspricht dabei nicht der Reihenfolge) (1):
• Klinische Blutungsneigung
• Thrombozytenzahl
• Krankheitsstadium (neu diagnostizierte, persistierende oder chronische ITP)
• bisheriger Krankheitsverlauf, Blutungsanamnese
• Nebenwirkungen
• Konsequenzen für Beruf (Berufsunfähigkeit vermeiden)
• Alter, Komorbiditäten, Begleitmedikation (v.a. Antikoagulanzien)
• Zugang zu ambulanter und stationärer fachärztlicher Versorgung
• Expertise der Ärzteschaft
• Patient:innenpräferenz, psychosoziale Situation
• Berücksichtigung des Bewegungsdrangs bei Kindern und Jugendlichen mit dadurch bedingtem höheren Verletzungsrisiko in Kindergarten, Schule oder bei Freizeitaktivitäten
 

Die ITP ist eine Orphan Disease

In seinem Vortrag auf dem ITP-Patiententag ging Matzdorff zunächst auf die Grundlagen der ITP ein. ITP, auch als Werlhof-Krankheit bzw. Morbus Werlhof bekannt, ist eine seltene Erkrankung. In Deutschland leiden etwa 16.000 Patient:innen unter einer chronischen Form dieser Autoimmunerkrankung, die durch Thrombozytopenie und Purpura (Kapillarblutungen wie Petechien) gekennzeichnet ist. Die Inzidenz der chronischen ITP im Erwachsenenalter beträgt 2-4 pro 100.000/Jahr, die Prävalenz ca. 2/104.

Der ältere Begriff Idiopathische Thrombozytopenische Purpura sollte nicht mehr benutzt werden, da die ITP immunologische Ursachen hat und daher nicht mehr als idiopathisch bezeichnet werden kann. Darüber hinaus haben viele ITP-Patient:innen keine Blutungen, sondern nur niedrige Thrombozytenwerte. „Die ITP ist keine angeborene, sondern eine erworbene, immunvermittelte Erkrankung bei Erwachsenen und Kindern. Es gibt keine familiäre ITP“, betonte Matzdorff.

Krankheitsphasen

Es werden 3 Krankheitsphasen unterschieden:
• Neu diagnostizierte ITP (bis zu 3 Monate nach der Diagnosestellung)
• Persistierende ITP (3-12 Monate nach der Diagnosestellung)
• Chronische ITP (mehr als 12 Monate nach der Diagnosestellung)

Thrombozytenschwellenwert spielt nur noch eine nachgeordnete Rolle

Nicht die Thrombozytenzahl, sondern vielmehr die klinische Blutungsneigung, das Krankheitsstadium und die Nebenwirkungen bestimmen das weitere Vorgehen bei der Therapie. „Es ist kein Fehler, selbst bei niedrigen Werten nicht zu behandeln, solange die Patientin/der Patient nicht blutet“, erklärte Matzdorff. „Patient:innen, die schon längere Zeit an ITP erkrankt sind, damit gut umgehen können und nicht bluten, müssen auch mit 5.000 Thrombozyten nicht zwingend behandelt werden“, erklärte Matzdorff.

Therapieziele

Die Therapieziele unterscheiden sich entsprechend mit der Dauer der Erkrankung. Ziele sind generell Blutungsstillung und Kuration; aber auch bei einer neu diagnostizierten ITP wird eine Heilung nur bei der Minderheit erreicht. In der Phase der persistierenden ITP ist eine Spontanremission seltener, die Therapie ist häufiger längerfristig, und Nutzen/Nebenwirkungen sind stärker gegen­einander abzuwägen. „Je chronischer die Erkrankung wird, desto mehr spielen Nebenwirkungen und Lebensqualität sowie weitere Faktoren eine Rolle“, so Matzdorff.

Cave Kortison

Dabei ging der Experte auf das Thema Kortison und Lebensqualität ein. Oft wird Kortison zu lange gegeben. Auch erhalten die Patient:innen zu wenig Informationen über Steroide. Daher besteht oft eine Abneigung gegen Kortison von Seiten der Patient:innen. Generell wird zu Beginn der Erkrankung, bei der persistierenden und chronischen ITP zu viel Kortison verschrieben, doch die Patient:innen leiden darunter, und es beeinträchtigt ihre Lebensqualität.

Auch Dr. Karolin Trautmann-Grill, Dresden, gab zu Bedenken, dass Steroide unangenehme Nebenwirkungen wie Steroid-Akne, Übergewicht oder Osteo­porose hervorrufen können, wenn sie längerfristig eingesetzt werden. Daher sollte die Dauer der Steroid-Therapie auf 6 Wochen begrenzt werden, was in der Praxis leider nicht immer berücksichtigt wird.

Therapieoptionen

Es gibt inzwischen viele weitere Optionen, die bei Patient:innen, die eine über 6 Wochen andauernde Behandlung benötigen, eingesetzt werden können. Ein beobachtendes Abwarten ist prinzipiell möglich. So kann z.B. die Watch-and-wait-Strategie angewendet werden, wenn keine oder nur minimale Blutungen auftreten. Ebenso gibt es medikamentöse Möglichkeiten, wie Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten sowie ganz neu einen Milz-Tyrosinkinase-Inhibitor. Eine Splenektomie wird dagegen nur noch selten durchgeführt.

Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten

Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten (TPO-RA) sind mittlerweile seit über 10 Jahren in Deutschland verfügbar. Es sollte mit den Patient:innen besprochen werden, ob sie eher Tabletten oder subkutane Spritzen favorisieren.

TPO-RA haben unterschiedliche Wirkmechanismen. In erster Linie steigern sie die Thrombozytenneubildung im Knochenmark. Es handelt sich um sichere Medikamente mit einem langfristigen Ansprechen bei der Mehrheit der Patient:innen. Als Zielbereich für die Thrombozyten wird > 50 Gpt/l angegeben.

Milz-Tyrosinkinase-Inhibitor

Seit 2020 ist ein Milz-Tyrosinkinase (SYK)-Inhibitor zur Behandlung der chronischen ITP verfügbar. Bei diesem handelt es sich um einen komplett neuen Wirkmechanismus. Der Einsatz ist erst nach dem 12. Erkrankungsmonat möglich. Die Ansprechrate lag in Studien bei ca. 50%. Wenn nach 3 Monaten keine Verbesserung erzielt wird, wird die Therapie beendet. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Diarrhoe und Hypertonie.

Was wollen die Patient:innen?

Es ist wichtig, auch die Bedürfnisse der Patient:innen zu erfragen und zu berücksichtigen. Eine Umfrage unter ITP-Patient:innen und den Ärzt:innen hat gezeigt, dass Patient:innen und Ärzt:innen unterschiedliche Therapieziele haben. Während Ärzt:innen eine bessere Lebensqualität als wichtigstes Therapieziel ansehen, kommt es den Patient:innen v.a. auf bessere Blutwerte an. „Dies zeigt, dass für die Patient:innen eben doch die Thrombozytenzahl bedeutsam ist. Das sollte nicht so sein, aber es ist so“, erläuterte Matzdorff.

Das zweitwichtigste Therapieziel für Ärzt:innen sind weniger Blutungen; erst an der 6. Stelle kommt Fatigue. Für die Patient:innen steht dagegen die Lebensqualität an der 2. Stelle und als 3. folgt bereits Fatigue. Ärzt:innen nehmen die Probleme bei der ITP also anders wahr als die Patient:innen.

Lebensqualität und Fatigue

Bezüglich Lebensqualität schneiden ITP-Patient:innen schlecht ab, sogar schlechter als manche Krebspatient:innen, merkte Matzdorff an. ITP-Patient:innen klagen häufig über Fatigue und deutlich reduzierte Lebensqualität, v.a. am Anfang der Erkrankung, wenn häufig Blutungssymptome auftreten und die Patient:innen und Angehörigen den Umgang mit der Thrombozytopenie erst noch lernen müssen. Mit zunehmender Erfahrung wird die Lebensqualität besser. Es besteht auch kein direkter Zusammenhang zwischen Thrombozytenzahl und Fatigue; auch nach Besserung der Thrombozytopenie leiden viele Patient:innen weiterhin unter Erschöpfung und Müdigkeit.

Schwangerschaft und Kinderwunsch bei ITP-Patient:innen

Matzdorff beleuchtete darüber hinaus das Thema ITP, Kinderwunsch und Geburt. „Alle ITP-Patientinnen können Kinder bekommen.“ Das ist ein wichtiger Aspekt, denn vielen Patientinnen ist das nicht klar, und sie befürchten, dass sie auf Kinder verzichten müssen. Wenn eine Patientin allerdings bereits einmal schwanger war und Komplikationen aufgetreten sind, die sich nicht beherrschen lassen, dann sei das eine andere Situation, und es sollten Expert:innen herangezogen werden, die sich damit auskennen, so Matzdorff. Bei einer neu diagnostizierten ITP, die komplikationslos verläuft, gäbe es aber normalerweise keine Probleme. Aufpassen müsse man jedoch, wenn Medikamente eingenommen werden und diese nicht mit einer Schwangerschaft vereinbar sind. Es gibt grundsätzlich Expertise zu diesem Thema. „Ich denke, dass wir allen Patientinnen sagen können, dass die ITP kein Grund ist, auf eine Familienplanung zu verzichten.“

Impfungen und COVID-19/SARS-CoV-2

PD Dr. Oliver Meyer, Facharzt für Transfusionsmedizin und medizinischer Leiter des DRK-Blutspendedienstes NSTOB gGmbH, erörterte im Rahmen des ITP-Patiententags Informationen zu Infektionen und Impfungen.

Im Zusammenhang mit COVID-19/SARS-CoV-2 sind neu auftretende ITP beschrieben worden, ebenso nach einer SARS-CoV-2-Impfung. Man kann jedoch nicht immer gleich einen ursächlichen Zusammenhang sehen. Es ist bekannt, dass bei einer COVID-19-Erkrankung 20-30% der Patient:innen Thrombozytenwerte < 150.000/µl aufweisen, ähnlich wie bei anderen Infektionen. Häufig sind sie leichtgradig; schwere Thrombozytopenien sind selten. Es kann durch eine SARS-CoV-2-Erkrankung aber durchaus zu einer Verschlechterung einer bestehenden ITP kommen, in Einzelfällen werden sogar schwere (Hirn-)Blutungen diagnostiziert. Eine Thrombozytopenie tritt gehäuft bei Patient:innen mit einem schweren bzw. tödlichen Verlauf auf, d.h. eine Thrombozytopenie ist ein Indikator für eine schlechte Prognose einer SARS-CoV-2-Erkrankung. Im Rahmen einer SARS-CoV-2-Erkrankung sollte eine Thrombozytopenie generell vermieden werden, vor allem dann, wenn eine Patientin/ein Patient bereits eine ITP hat. „Aktuell ist es nicht möglich vorherzusehen, ob ITP-Patient:innen, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren, ein erhöhtes Risiko einer schweren Thrombozytopenie haben“, sagte Meyer.

ITP-Patient:innen können und sollten alle Standardimpfungen erhalten, die von den nationalen Gesundheitsbehörden empfohlen werden. Das gilt auch für die aktuell angebotenen Impfungen gegen COVID-19. Wenn es nach einer Impfung zu einer Verschlechterung der ITP kommt, können sich Ärzt:innen darauf vorbereiten und reagieren. So können die Thrombozytenwerte nach der Impfung kontrolliert und auf eine Blutungssymptomatik geachtet werden. Dies wird dann entsprechend behandelt.

„Wenn es bei einer ITP zu einer SARS-CoV-2-Infektion kommt und sich die ITP dann verschlechtert, sind die Behandlungsmöglichkeiten dagegen deutlich eingeschränkter. Dies sollte natürlich vermieden werden, da das ein hohes Risiko für einen schlechten Verlauf ist“, betonte Meyer.

Zusammenfassend gilt für die ITP:

• Die ITP ist eine seltene Erkrankung; Wissen und Erfahrung zu dieser Erkrankung sind daher nicht breit gestreut.
• Kortison ist und bleibt die 1. Therapie der Wahl, zumindest am Anfang der Erkrankung. Wichtig ist aber, Steroide aufgrund der nicht un­erheblichen Nebenwirkungen nicht zu lange zu geben.
• Die medikamentösen Möglichkeiten bei chronischer ITP werden immer vielfältiger. Inzwischen gibt es eine Reihe weiterer neuer Therapien und Wirkstoffe, und in den nächsten Jahren werden noch mehr hinzukommen. Die Auswahl und Therapiesequenz ist nicht für jede Patientin/jeden Patienten gleich. Bei einigen Patient:innen ist es auch möglich, die Therapie wieder zu beenden.
• Die Thrombozytenzahl allein, auch wenn die Patient:innen und Ärzt:innen diese immer ganz oben ansiedeln, ist nicht der wichtigste Faktor. Neben der Thrombozytenzahl und der Blutungsneigung ist z.B. auch Fatigue ein wesentlicher Aspekt.
• Es gibt komplementär- und alternativmedizinische Therapien, die für viele Patient:innen eine wichtige Rolle spielen. Diese Bedürfnisse sollten auch Beachtung finden.

Ziel für alle Patient:innen ist die individualisierte Therapie

Wichtig ist die Kommunikation mit den Patient:innen, um die Therapiemöglichkeiten zu diskutieren und auch die Wünsche der Patient:innen zu berücksichtigen. Für viele ITP-Patient:innen ist es sehr wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, möglichst in der näheren Umgebung. Das heißt, die Patient:innen sollen Verantwortung für sich selbst übernehmen, aber auch Expert:innen an der Seite wissen, beispielsweise für den Fall, dass Therapiemaßnahmen keine (ausreichende) Wirkung zeigen oder wenn ein erhöhtes Infektionsrisiko gegeben ist.

Es gibt viele Einflussfaktoren auf die Therapieentscheidung. Zudem sollte die Behandlung auf die einzelnen Patient:innen zugeschnitten sein, da es auch individuelle Risikofaktoren gibt, die das Blutungsrisiko erhöhen, wie Alter und Komorbiditäten. Auch der Lebensstil ist relevant.

„Den meisten Patient:innen mit ITP kann heute sehr gut geholfen werden“, betonte Matzdorff. Ein optimaler Therapieerfolg kann aber nur gemeinsam mit Patient:innen und Ärzt:innen erreicht werden. „Man muss letztendlich gemeinsam die individualisierte Therapieoption finden“, resümierte auch Trautmann-Grill.

Quelle: Erster nationaler ITP-Patiententag für Betroffene und Angehörige, 25.09.2021; Veranstalter: Novartis

Literatur:

(1) Onkopedia-Leitlinie Immunthrombozytopenie (letzter Zugriff: September 2021).


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