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Medizin

Interview mit Prof. Martin Griesshammer: „Wir behandeln die Polycythaemia vera heute langfristig und nachhaltig“

Interview mit Prof. Martin Griesshammer: „Wir behandeln die Polycythaemia vera heute langfristig und nachhaltig“
© Celt Studio – stock.adobe.com
Die aktuelle Version der Onkopedia-Leitlinie zur Polycythaemia vera (PV), Stand September 2023, weist relevante Änderungen des Therapiealgorithmus gegenüber der Vorversion aus, insbesondere was die erste Behandlungslinie betrifft. Im Interview mit Journal Onkologie ordnet Prof. Martin Griesshammer, Direktor der Universitätsklinik für Hämatologie, Onkologie, Hämostaseologie und Palliativmedizin am Johannes Wesling Klinikum Minden, die Änderungen für den klinischen Alltag ein. Er erklärt, ob die geänderten Therapieempfehlungen auch die Folgelinien beeinflussen, was die Medikamente Interferon und Ruxolitinib gemeinsam haben und wie ein modernes, an der Krankheitsbiologie ausgerichtetes Verständnis der PV aussieht.
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Herr Prof. Griesshammer, Sie waren als ausgewiesener PV-Experte maßgeblich an der Erstellung bzw. Aktualisierung der PV-Leitlinie beteiligt. Welches sind die bedeutendsten Änderungen?

Zwei Dinge sind wirklich neu im Behandlungsalgorithmus. Zum einen haben wir die Empfehlung für eine zytoreduktive Therapie jetzt auch Patientinnen und Patienten mit Niedrigrisiko-PV ausgeweitet – vorausgesetzt, es sind bestimmte Bedingungen erfüllt. Wir wollen jetzt auch diese Erkrankten frühzeitig behandeln, um das Progressionsrisiko zu vermindern. Zum anderen priorisieren die Leitlinien für die zytorektive Therapie Interferon alpha (Ropeginterfon alfa-2b) gegenüber Hydroxyurea (HU), falls die Erkrankten interferontauglich sind.

An welchen Kriterien machen Sie fest, ob PV-Patientinnen und -Patienten mit niedrigem Risiko für eine Zytoreduktion in der Erstlinie qualifizieren?

Zytoreduktiv sollte erstens behandelt werden, wenn häufige Aderlässe notwendig sind. Darunter verstehen wir mehr als 6 Aderlässe pro Jahr, über 2 Jahre gesehen. Die Aderlässe zu Beginn der Behandlung, wo sie meist häufiger vorkommen, zählen übrigens nicht mit. Das zweite Kriterium betrifft die trotz ausreichender Aderlass Therapie und niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) weiterbestehenden Symptome der PV, die die Patienten in Ihrem Alltag deutlich beeinträchtigen. Wenn diese also unter der bestehenden Therapie mit Aderlässen und niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) weiterbestehen und kein ausreichendes Ansprechen vorliegt, sollte eine Zytoreduktion eingeleitet werden. Drittens sollte zytoreduktiv behandelt werden, wenn die Leukozyten oder Thrombozyten sehr hoch sind – also > 15.000/µl Leukozyten und/oder >1 Million/µl Thrombozyten – oder die Milz durch eine Größenzunahme Probleme macht. Für all diese Konstellationen liefern die Leitlinien klare Kriterien.

Bisher wurden Erkrankte, die eine Zytoreduktion erhielten, primär mit HU behandelt – was sich mit den neuen Leitlinien sicher bald ändern dürfte. Woran erkennt man, dass eine zytoreduktive Erstlinientherapie an ihre Grenzen stößt?

Diese Grenzen sind erreicht, wenn entweder eine Resistenz oder eine Intoleranz gegenüber der Vortherapie vorliegen. Ich möchte das am Beispiel von HU erläutern. Resistenz gegen HU liegt definitionsgemäß dann vor, wenn unter einer mindestens viermonatigen Therapie mit der empfohlenen HU Dosis – das sind 3 Kapseln, also 1,5 Gramm pro Tag – weiterhin Aderlässe notwendig sind oder wenn die Leukozyten und Thrombozyten deutlich ansteigen. Wir sollten aber auch die Intoleranz keinesfalls vergessen. Diese betrifft alle Arten von Nebenwirkungen, die insbesondere die Haut betreffen, aber auch hämatologische Toxizitäten. Wenn sich etwa eine Anämie ausbildet, die Blutplättchen abfallen oder die Neutrophilen unter 1.000/µl sinken, dann liegt Intoleranz vor.

Wie sollten Therapeutinnen und Therapeuten handeln, wenn eine Resistenz oder Intoleranz gegen HU vorliegt?

Dann sollte frühzeitig auf eine Therapie mit dem JAK-Inhibitor Ruxolitinib umgestellt werden, der in diesem Setting zugelassen ist. Denn sowohl eine Resistenz als auch eine Intoleranz gegen HU wirken sich sehr negativ auf die Prognose der Erkrankten aus. Bei der Intoleranz wird das oft nicht beachtet, aber sie ist letztlich genauso prognostisch ungünstig wie eine Resistenz. Es gibt Daten aus Israel, die ganz klar zeigen, dass die Intoleranz ebenso wie die Resistenz mehr Thrombosen verursacht, die Progression fördert und letztlich auch die Mortalität erhöht. Beide Faktoren müssen also ernstgenommen werden und sollten eine Umstellung auf eine Zweitlinientherapie bewirken.
 
 

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Neue Daten zu Ropeginterferon alfa-2b bei Polycythaemia vera

Erschienen am 28.09.2023Die endgültigen Daten zu Ropeginterferon alfa-2b aus CONTINUATION-PV bei PV wurden in Leukemia veröffentlicht. Mehr dazu lesen Sie hier!

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Es ist zu erwarten, dass PV-Erkrankte in der Erstlinie zukünftig bevorzugt Interferon alpha erhalten werden. Bleiben die Kriterien für einen Wechsel auf eine Zweitlinientherapie dann erhalten? Sie gelten ja streng genommen nur für HU.

Ja, das würde man praktischerweise so machen, auch wenn das nicht explizit festgelegt ist. Aber warum sollte man andere Kriterien einführen? Die Grundphilosophie des Umstellens der Behandlung bei Resistenz oder Intoleranz bleibt ja gleich. Auch nach einer Interferontherapie wird es Resistenzen und Intoleranzen geben, das ist klar. Dann ist eine Umstellung auf die zweite Linie indiziert.

Sie erwähnten, dass Ruxolitinib die bevorzugte Option für die Zweitlinie ist. Was kann man in diesem Setting von der Substanz erwarten?

Es ist aus großen Studien belegt, dass Betroffene eine deutliche Reduktion der Symptomatik und auch eine niedrigere Thromboserate erwarten dürfen. Und langfristig darf im längeren Zeitverlauf auch eine Reduktion des JAK2-Klons erwartet werden, der bei der PV eine wesentliche pathogenetische Bedeutung hat. Eine Substanz, die in der Lage ist, die JAK2-Allel-Last bei PV-Erkrankten langfristig zu verringern, kann mit großer Wahrscheinlichkeit den natürlichen Krankheitsverlauf der PV nachhaltig und positiv beeinflussen und den Progress und den Spätfolgen der PV vorbeugen. Neben Ruxolitinib besitzt auch Interferon alpha diese Fähigkeit.

Ist das Eingreifen in den Krankheitsverlauf der PV als neuer Therapieansatz zu verstehen?

Ja, das kann man wirklich so sagen. All das basiert auf einem neuen Verständnis der PV, das die Krankheitsbiologie in den Fokus stellt. Wir wissen heute, dass wir bei der PV in anderen Zeitdimensionen denken müssen als bei anderen hämatologischen Krankheiten. Oft besteht die Erkrankung nämlich schon seit Jahrzehnten, bevor sie diagnostiziert wird. Und was sich langsam entwickelt, muss wohl auch langsam zurückgedrängt werden. Die neue Idee besteht deshalb darin, langfristig und nachhaltig zu therapieren. Unsere bisherigen Behandlungsstrategien hatten zum Ziel, bei der PV durch Aderlässe oder Zytoreduktion mit Hydroxyurea in den Folgejahren Thrombosen zu verhindern. Heute verfolgen wir auch das Ziel, in einem Zeitrahmen von Jahrzehnten auch die Progression in eine Leukämie oder Myelofibrose zu verhindern. Ein wichtiger Baustein dabei ist, den JAK2-Klon frühzeitig zurückzudrängen – durch Interferon in der Erstlinie und später auch Ruxolitinib in der Zweitlinie. Interessanterweise beobachten wir aber auch Erkrankte, deren JAK2-Allel-Last unter den beiden Medikationen nicht relevant reduziert wird, die aber trotzdem von der Behandlung profitieren. Das lässt vermuten, dass der JAK2-Klon pathogenetisch zwar bedeutsam ist, aber auch andere Genveränderungen an der klonalen Evolution auf dem Weg zur PV mitwirken.

Wenn nur Interferon und Ruxolitinib in der Lage sind, günstig in den Krankheitsverlauf der PV einzugreifen, sehen Sie da überhaupt noch einen Stellenwert für HU?

Tatsächlich erfüllen Interferon und Ruxolitinib die Anforderung an moderne Medikamente, die in den Stoffwechsel und den Verlauf der PV positiv eingreifen. Insofern eignen sich beide für eine langfristige und nachhaltige Therapie der Erkrankung. HU ist aber weiterhin ein bewährtes Medikament für die Akutphase, wenn etwa bei PV-Erkrankten ein Herzinfarkt, Schlaganfall oder eine schwere Thrombose eintritt. Zudem wird es auch immer wieder Situation geben, in denen Interferon oder Ruxolitinib alleine nicht ausreichen. Dann können und sollten wir HU dazugeben. Nicht zuletzt möchte ich hier auch sehr alte Erkrankte mit Komorbiditäten nennen, bei denen die Problematik der PV oft nicht im Vordergrund steht. Bei diesen Patientinnen und Patienten kann das gut verträgliche HU möglicherweise dann ausreichen, um die PV unter Kontrolle zu halten.
Vielleicht kann man es so ausdrücken: Der neue Therapiealgorithmus hat die verfügbaren Optionen verändert und verschoben, aber alle zugelassenen Arzneimittel haben weiterhin ihre Berechtigung.

Herr Prof. Griesshammer, danke für das interessante Gespräch.

Das Interview mit Prof. Griesshammer führte Dr. Claudia Schöllmann. Das Gespräch fand im Nachgang der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie 2023 in Hamburg statt.

Quelle: Journal Onkologie


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