Myeloproliferative Neoplasien: Grundlagen
Antje Blum M.A.Myeloproliferative Neoplasien (MPN) sind klonale Erkrankungen der blutbildenden Zellen des Knochenmarks. Durch somatische Mutationen in hämatopoetischen Stamm- oder Vorläuferzellen kommt es zu einer unkontrollierten Vermehrung reifer Zellen einer oder mehrerer Blutzelllinien. MPN gehören zur Gruppe der myeloischen Neoplasien und können mit einer Vielzahl von Komplikationen wie Thrombosen, Blutungen oder einer Umwandlung in eine akute Leukämie einhergehen [1].
MPN sind seltene Erkrankungen mit einer jährlichen Inzidenz von etwa 1-2 pro 100.000 Einwohner. Die meisten Patient:innen sind bei Diagnosestellung über 60 Jahre alt, prinzipiell kann die Erkrankung jedoch in jedem Lebensalter auftreten.
Die WHO-Kriterien 2022 definieren für jede MPN-Unterform spezifische diagnostische Haupt- und Nebenkriterien, die Morphologie des Knochenmarks, molekulargenetische Veränderungen und Laborwerte berücksichtigen. Zentraler Bestandteil sind der Nachweis klonaler Mutationen (z. B. JAK2, CALR, MPL) sowie typische histopathologische Veränderungen im Knochenmark. Besonders bei der primären Myelofibrose wird seit 2022 zwischen einer präfibrotischen und einer fibrotischen Phase unterschieden, was prognostisch und therapeutisch relevant ist [2, 3].
Formen der MPN (WHO 2022 Klassifikation)
Philadelphia-Chromosom-negative klassische MPN
Primäre Myelofibrose (PMF, inkl. präfibrotischer Phase)
Chronische Eosinophilenleukämie, nicht näher klassifizierbar (CEL)
Philadelphia-Chromosom-positive MPN
Chronisch myeloische Leukämie (CML, BCR-ABL1-positiv)
Zugrundeliegende molekulare Veränderungen und Tumorbiologie
Die meisten Philadelphia-Chromosom-negativen MPN weisen somatische Mutationen in den Genen JAK2, CALR oder MPL auf. Diese führen zu einer konstitutiven Aktivierung von Signalwegen, die Zellproliferation und Überlebensvorteile der betroffenen Zellen vermitteln: JAK2 V617F-Mutation (bei ca. 95% der PV, 50-60% der ET und PMF), CALR-Mutationen (häufig bei JAK2-negativen ET und PMF)sowie MPL-Mutationen (ca. 5-10% bei ET und PMF). Darüber hinaus existieren „Triple-negative“ MPN ohne diese Mutationen sowie weitere Mutationen (z.B. ASXL1, EZH2, SRSF2, IDH1/2), die v.a. für Prognose und Therapieentscheidung relevant sind.
Diagnostik
Die Diagnose der MPN erfolgt anhand der WHO-Kriterien (2022) und beinhaltet:
Anamnese und körperliche Untersuchung (z.B. Splenomegalie)
Labor (BB, Hb, Thrombozyten, Leukozyten, LDH, Erythropoietin-Spiegel)
Knochenmarkbiopsie zur Beurteilung der Morphologie
Molekulargenetik: Testung auf JAK2, CALR, MPL und ggf. erweiterte Mutationsanalysen
Bildgebung (Sonographie, ggf. MRT/CT) bei Verdacht auf Splenomegalie, Thrombosen
Symptomatik
Die Symptomatik entwickelt sich oft schleichend. Zu den häufigsten Beschwerden zählen Müdigkeit, Leistungsminderung, Schwindel, Kopfschmerzen, Visusstörunge, Mikrozirkulationsstörungen (z.B. Erythromelalgie), Pruritus (v.a. bei PV), Oberbauchbeschwerden durch Splenomegalie. Außerdem können auftrten: Thrombosen atypischer Lokalisation (z.B. Budd-Chiari-Syndrom), Blutungsneigung, B-Symptomatik (Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Fieber), Portale Hypertension.
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der jeweiligen MPN-Form, dem Risikoprofil und dem klinischen Verlauf.
Polycythaemia vera (PV)
Zielhämatokrit <45%, Aderlass, ASS 100 mg/d. Bei Hochrisiko: zytoreduktive Therapie (Hydroxyurea, IFN-alpha, Ruxolitinib)
Essentielle Thrombozythämie (ET)
ASS 100 mg/d (bei niedrigem Blutungsrisiko). Bei Hochrisiko: Hydroxyurea, IFN-alpha, Anagrelid
Primäre Myelofibrose (PMF)
Symptomkontrolle (z.B. bei Splenomegalie: Ruxolitinib, Fedratinib). Allogene Stammzelltransplantation bei Hochrisikopatienten
Weitere Optionen
Splenektomie (selten), Experimentelle Therapien (z.B. weitere JAK-Inhibitoren, Kombinationstherapien), Supportive Therapie (Transfusionen, Erythropoetin, Behandlung von Begleitinfektionen). Die Heilung ist aktuell nur durch eine allogene Stammzelltransplantation möglich, die aufgrund ihrer Risiken jedoch nur bei ausgewählten Patient:innen durchgeführt wird.
Literatur:
- (1)
- (2)
Khoury JD, Solary E, Abla O, et al.: The 5th edition of the World Health Organization Classification of Haematolymphoid Tumours: Myeloid and Histiocytic/Dendritic Neoplasms. Leukemia 36:1703-1719, 2022. DOI:10.1038/s41375-022-01613-1
- (3)
Arber DA, Orazi A, Hasserjian RP, et al.: International Consensus Classification of Myeloid Neoplasms and Acute Leukemias: integrating morphologic, clinical, and genomic data. Blood 140:1200-1228, 2022. DOI:10.1182/blood.2022015850
MPN sind seltene Blutkrebserkrankungen, bei denen das Knochenmark zu viele Blutzellen produziert.
Beim Philadelphia-Chromosom handelt es sich um eine spezielle genetische Veränderung: Zwei Chromosomen (Nr. 9 und 22) tauschen Teile ihrer Erbinformation aus. Dabei entsteht ein neues, krankhaftes Gen — das sogenannte BCR-ABL1-Fusionsgen. Dieses Gen produziert ein Eiweiß (eine sogenannte Tyrosinkinase), das die Zellen im Knochenmark dazu bringt, sich unkontrolliert zu teilen. Diese Veränderung findet man fast immer bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML), aber normalerweise nicht bei anderen MPN-Formen.
Meist durch genetische Mutationen (z.B. JAK2, CALR, MPL), die das Zellwachstum dauerhaft aktivieren.
Häufig sind Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Hautjucken, Bauchschmerzen (vergrößerte Milz) und Blutgerinnsel.
Durch Blutuntersuchungen, Knochenmarkbiopsie und genetische Tests.
Nur selten, durch eine Stammzelltransplantation; viele Patienten können aber gut langfristig behandelt werden mit z.B. Aderlass, ASS, Hydroxyurea, Interferon-alpha und JAK-Inhibitoren